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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

 

Die Liebe zum Neuen

DAS UNSICHTBARE LIEBEN. KOCHAC TO, CO NIEWIDZIALNE.Neue polnische Poesie. Nowa poezja polska. Anthologie; Gedichte. Hrsg. von Dorota Danielewicz-Kerski. Übersetzt von H. Bereska, J. Manc, R. Matwin-Buschmann, R. Schmidgall. Zweisprachig polnisch-deutsch. Gutke-Verlag, Köln 1998.

Diese Anthologie mit neuer polnischer Lyrik präsentiert Autoren der Nachkriegsgeneration, von denen keiner bis dahin im deutschsprachigen Raum verlegt worden war. Somit bietet der Band erstmals einen Überblick über die polnische Dichtung der letzten Jahre, die eine Vielzahl von Strömungen aufweist. Die Herausgeberin geht im Nachwort auf diese Tendenzen ein und stellt die Autoren in biographischen Notizen vor.
Dichtung hatte es in Polen auch nach der Wende von 1989 nicht leicht, was nun aber nicht mehr politisch bedingt war. Dorota Danielewicz-Kerski hat recht, wenn sie feststellt: "Seit dem Fall des Kommunismus in Polen, als Massenkultur und McDonalds-Ästhetik den Zeitgeist zu bestimmen begannen, seitdem sich endlich fast jeder einen Satellitenempfänger und einen Videorecorder leisten kann, gelten Gedichte mehr als je zuvor als elitär". Dennoch darf man aus der hier präsentierten Fülle schließen, daß es in Polen nach wie vor weder an Autoren noch an Liebhabern der Poesie fehlt.
Die Ästhetik der Massenkultur wird beim Schreiben nicht ausgespart, sondern sie beeinflußt sowohl die Form als auch den Inhalt der Texte. Adam Zagajewski spricht hier von der "Poetik des Alltags", die "zu unerwarteten Entdeckungen führen" kann.
Nach Meinung der Herausgeberin gehen die jungen polnischen Dichterinnen jedoch anders, weil selbstverständlicher, mit diesen Elementen um als ihre männlichen Kollegen. Verblüffend auch, daß gerade junge Menschen dem geschriebenen Wort immer mehr Beachtung zu schenken scheinen. Zu ihren Favoriten gehören Autoren wie Bohdan Zadura, in dessen Werk der Leser "deutliche Zeichen einer Ästhetik der Wende in der Lyrik nach 1989" findet oder Marcin Swietlicki als "Vorreiter der in der Lyrik stattfindenden Veränderung", der die Empfindungen der Kriegsrechtsjahre 1981-1982 thematisiert.
Der thematische Reichtum macht der polnischen Literaturtradition alle Ehre. So trägt zum Beispiel Kazimierz Brakowieckis Gedicht DIE POLEN patriotische Züge: "Wer kennt besser als wir die Krankheiten Erinnerung und Trauma / wer wurde so umgangen als man Europa baute". Die in Wilna (heute zu Litauen) lebende Autorin polnischer Abstammung Alicja Rybalko spricht die Problematik der Zweisprachigkeit und Doppelstaatlichkeit an: "Die polnische Sprache ist voller Rascheln / die litauische voller Zischeln. / Wie die Schlange auf trocknen Blättern / zwei Hostien auf meiner Zunge". Eine jedem Dichter ungeachtet seiner Nationalität vertraute Thematik bringt Ewa Sonnenberg in ARS POETIKA so auf den Punkt: "Nicht mit Metaphern aasen / nicht pausenlos quasseln / hemmungslos auch in den Wind / irrationales Zungenverdrehen ...". Bilder modernen Lebens ruft das an Dublin erinnernde Gedicht von Zbigniew Machej hervor: "... Der senkrechte Schriftzug KODAK / wie ein Damoklesschwert. / Auf Rolltreppen zur Metro / zuhauf die Menge verkehrt. ..."
Auch die pseudonyme Samantha Kitsch entzieht sich der heutzutage selbstverständlichen Lebensweise nicht: "... Sie fuhr zum Flughafen, flog auf die Bahamas. / Jobbte dort als Kassiererin im Kino, in Disco, im / Schwimmbad. Make up, dekolletiertes Kleid, Kontrast-Linien / und Farben - nichts weiter. Nur so viel. ..."
Das Alltägliche, scheinbar Unwichtige, die Dinge der Umgebung werden von den jungen polnischen Autoren für die Poesie entdeckt. "Unsere ganze Erinnerung verdanken wir den Gegenständen, / die uns fürs Leben an sich binden und uns / durch eine Berührung, einen Duft, / ein Rauschen zähmen ...", schreibt Piotr Sommer im Gedicht EIN BAUM AUF DEM POWAZKI-FRIEDHOF, und Pawel Huelle analysiert die Folgen der Trauer des lyrischen Ichs namens ARTUR S.: "... Indessen ist es wieder Sommer, fliegende Ameisen / Landen auf dem Tisch neben der Kaffeekanne, / Doch der Duft des Harzes, das Weiß der Tischdecke, der goldene Streifen an der Tasse gehen dich nichts an."
Ein für die polnische Literatur wichtiges, wenn auch keineswegs allgegenwärtiges Thema ist der Glaube in seinen vielen Facetten. Bei Adriana Szymanska übernimmt Franz Kafka im Leben ihrer jungen rebellischen Tochter die Rolle des Gottes, um sie dann doch aufzufordern, mit ihm, dem Dichter, der "ihr vom Bücherregal aus lächelnd" zuschaut, nach Gott "hinter der letzten Tür des Spiegels" zu suchen. Für Maciej Cislo ist Gott "... Niemals eingefangen, unbegreiflich, / Vielleicht sogar für sich selbst ... / Gott / Übertrifft Gott. / Anders als andere. Alles und Nichts. / Festtag in Bewegung. / Licht". Zweifel äußert hingegen Tomasz Jastrun, wenn er sagt: "... Wenn ich an den glaube / Der ich auf dem Foto bin / Werde ich mühelos / Sogar an Gott glauben. ..." Unterschiedliche Sehweisen kann der Leser auch beim Urthema der Lyrik, der Liebe, beobachten. Eine zarte Zuneigung, versteckt hinter den Fassaden der Häuser, beschwört Maciej Niemiec in seinem Gedicht MÄRCHEN:
"Die Nacht steht hoch über die Stadt, / du mußt nichts mehr, flüstert sie, / hoch steht die Nacht, im Dunkel blikken / die Fenster einander in die Augen / wie Geliebte, getrennt nur durch ein / unmerkliches Beben des Alls / oder des Herzens.". Anna Janko gibt hingegen Zeugnis einer erfüllten Liebe: "... Ich schlief an deiner Schulter ein und war froh / als gäbe es keine Welt / süß vor Nichtsein überschritt ich diesen / Morgen in beide Richtungen gleichzeitig", und Marzanna Bogumila Kielar fügt hinzu: "Deine Hand in meinem Haar, an meinem Nacken, sanft, weich. Zerbrechliche Zartheit, Zittern?"
Als Mitarbeiter hat die Herausgeberin namhafte Persönlichkeiten gewonnen. Adam Zagajewski, ein führender Vertreter der modernen polnischen Dichtung, schrieb das Vorwort; Henryk Bereska, Joanna Manc, Roswitha Matwin-Buschmann und Renate Schmidgall schufen meisterhafte Nachdichtungen. Diese bilden mit den Originalen in bester Dedecius-Tradition eine lesenswerte zweisprachige Anthologie neuer polnischer Lyrik, die auf ihre Entdeckung bei uns noch wartet.

 

 

 

 

Dorota Danielewicz-Kerski (Hrg.)
"Das Unsichtbare lieben. Kochac to co niewidzialne"
- Zweisprachig -


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